Der Leuchtturm am Rand der Welt

»Vorsicht!« Harrod riß das Steuerruder herum und bemühte sich, die mannshohe Welle seitlich abzureiten. Die schmale Nußschale wurde gefährlich durchgerüttelt, stürzte gleich darauf ins nächste Wellental und trudelte wie ein betrunkener Albatros durch die nächtlichen Wogen. Harrod der Sturmvogel umklammerte das feuchte Holz der Pinne, daß es fast unter seinem Griff zu brechen drohte. Mit rauhen Stricken hatte der alte Seebär sich am Heck der Lachmöwe festgezurrt, und das Salzwasser troff ihm von der Krempe der Ölhaube. Wieder sprang eine Woge über Bord und klatschte ihm ins Gesicht. Besorgt blickte er hinauf zum Mast, an dem das bis zum äußersten gereffte Dreieckssegel schlug und im Sturm knallte. Wenn der Orkan noch stärker anschwoll, würde das Leinen ausreißen. Doch bei diesem Seegang wollte er es lieber nicht wagen, seine Männer zum Bergen des Tuches dort hinaufzuschicken. Zumindest ein wenig mehr Mondlicht wollte er haben, bevor er ihr Leben aufs Spiel setzte.

»Harrod?«

Ein Stöhnen kam vom Mast her. Man hatte den riesenhaften Krieger mit mehreren Tauen festgelascht, und da hockte er nun zusammengekrümmt, den mächtigen Oberkörper schützend über das Kind gelegt, das er mit seinem Leben zu verteidigen geschworen hatte. Der alte Kapitän lächelte leise in sich hinein. Er hatte schon viele seekranke Passagiere gehabt, doch noch keiner hatte ihm so viel Respekt abgenötigt wie dieser hünenhafte, finstere Kriegsheld mit dem leicht grünlichen Antlitz, der sich trotz aller Todesangst und Magenkrämpfe tapfer bemühte, nicht auf das Baby zu kotzen.

»Harrod!« schrie der Riese wieder. »Hört dieser Sturm denn nie auf?«

Harrod schüttelte bedauernd den Kopf. »Noch mindestens zehn Meilen, Freund Orh!« brüllte er gegen das Rasen der See an. »Dann können wir auf einen anderen Kurs gehen. Ich hoffe, daß dann das Schiff ein wenig ruhiger liegt ...«

Der Wind riß ihm die letzten Silben aus dem Mund. Wieder schoß die See kübelweise über die Bordwand. Im nächtlichen Dunkel konnte er die Ruderknechte kaum ausmachen, die sich mit aller Kraft in die Riemen legten. Nur den schmalen, sehnigen Oberkörper Löweners konnte er vor sich erahnen, der sich im Takt der Ruderschläge aufbäumte und wieder niedersank, unermüdlich wie ein struppiges Bergpony. Harrod verlagerte das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und suchte einen sicheren Stand. Vorsichtig löste er die rechte Hand vom Steuer und griff in seinen Pelzkragen. Unter den Kleidern förderte er seinen kostbarsten Besitz hervor: die alte Kristallscheibe seines Vaters und Großvaters, die er stets an einem Seehundsriemen um den Hals trug. Die kaum handtellergroße, flache Kristallplatte schien schwach zu leuchten, als er sie am Riemen in der Luft pendeln ließ. Unschlüssig drehte sich der Stein im Kreis, schwankte durch den Wind wie die mit den Wogen kämpfende Lachmöwe durch die See, bis die runde Scheibe sich exakt in Richtung der Kiellinie drehte. Zufrieden schob Harrod den Kristall wieder zurück unter seinen Pelz. »Wir sind genau auf Kurs, Freund Orh«, rief er dem Riesen tröstend zu. »Die Lachmöwe fährt einen sauberen Nordkurs, egal was Sturm und Wellen dazu sagen.«

Das Schiff sprang. Einen kurzen Augenblick lang schien es in der Luft zu schweben, bevor es donnernd wieder auf die Wasserfl äche aufschlug. Der Mast erzitterte, und einen endlosen Herzschlag lang fürchtete Harrod, die Wanten, die den schweren Eichenstamm aufrecht hielten, müßten zerreißen. Die geteerten Hanfseile schrien gequält auf. Doch sie hielten den Mastbaum unverrückbar fest.
»Wuääääh!«

Harrod fuhr zusammen. Alles, alles hatte er schon gehört und ertragen in seinem Seefahrerleben. Niederkrachende Masten, zerberstende Planken und das Geräusch, wenn ein Riff einem Segler den Kiel aufschlitzte. Todesschreie riesenhafter Wale und Raubfische, die sich unter der Harpune aufbäumten. Das furchtbare Heulen des Orkans und die verlorenen Seelen der Ertrunkenen, die in seinen Träumen nach ihm riefen. Alles, alles hatte der Sturmvogel zu ertragen gelernt ...

»Wuäääh!«

Da schrie das Kind schon wieder. »Sag ihm, es soll still sein!« brüllte Harrod den Riesen an. Der beugte sich hilflos über das plärrende Bündel und begann, es mit seinen rauhen Händen zu streicheln. Vergebens.

»Wuäääääh!«

Harrod standen die Haare zu Berge. Nicht einmal die südlichen Meerhexen konnten solche Töne erzeugen. Er spürte, wie sein Herzschlag ihm das Blut in den Kopf jagte. »Sag dem Balg, es soll still sein!« schrie er Orh an, verpaßte eine Welle und bekam einen Riesenkübel eisiges Salzwasser mitten ins Gesicht, als eine Sturzflut über die Bordwand hereinbrach. Ärgerlich wischte er sich die triefenden Haare aus der Stirn und funkelte den Riesen aus giftigen Augen an. Orh blickte genauso böse zurück. Mühsam richtete sich der Gigant zu seiner vollen Größe auf. Er taumelte leicht, doch das Tau, das um seine Brust geschlungen war, hielt ihn aufrecht am Mastbaum. Da stand er, Orh Jonoth aus Akkatossa, der tödlichste Krieger Movennas, hoch aufgerichtet am Mast der Lachmöwe. In seiner Linken hielt er den plärrenden Säugling, die Schwerthand ruhte provozierend auf dem Knauf seiner Waffe. Ein wenig grün im Gesicht, doch immer noch eine eindrucksvolle Gestalt, wie Harrod zugeben mußte.

»Das Balg, wie du es genannt hast, ist Orsans Sohn und dein zukünftiger König, vergiß das nicht«, grollte der Riese.

»Wuääääh!«

»Verdammt, sei still«, schimpfte Orh und besann sich gerade noch rechtzeitig, bevor er dem Kind mit der Pranke einen Klaps gab. Kapitän und Krieger blickten sich hilflos an. »Hast ja recht, Alter«, brummte der Recke schließlich versöhnlich. »Mir greift es auch an die Nerven. Ich will lieber tausend Moglàt den Schädel spalten als hier weiter den königlichen Babysitter spielen ...«

»Wuäääh!«

»Verdammt, Harrod, denk dir etwas aus, oder ich drehe durch!«

»Gib ihn mir«, piepste plötzlich ein dünnes Stimmchen zu Füßen des Riesen. Orh blickte verblüfft nach unten. Sparrow, der Schiffsjunge, reichte ihm kaum bis zum Gürtel, doch er stand breitbeinig und ohne sich festzuhalten vor ihm auf den schwankenden Planken und glich das Rucken und Springen des Schiffs mit spielerischer Mühelosigkeit aus. Auch das Kind schwieg, wie vom Auftreten des Jungen aus dem Kurs gebracht, für einen Augenblick, legte dann aber mit doppelter Lautstärke erneut los.

Ein Stoß erschütterte die Lachmöwe, und Orh wäre beinahe trotz des Halteseils lang hingeschlagen. Er ließ sich, mühevoll ächzend, wieder auf die feuchten Planken nieder. Nun schwebte sein Gesicht auf der Höhe Sparrows.

»Setz dich zu uns, Kleiner«, hustete er. Das Springen und Stoßen des Schiffes nahm zu, und trotz der Dunkelheit konnte man sehen, wie der Hüne mit seinem Magen kämpfte. »Setz dich zu uns. Und dann zeig uns deine Kunst ...«

Sparrow hockte sich gehorsam neben den Krieger. Mit einem geübten Handgriff verhakte er seinen Gürtel in einer Klampe des Mastbaums. Erst dann streckte er die Hand nach dem Kind aus. Der Riese zögerte. Schob dann hastig den Prinzen von sich fort und wandte sich ab. Mit weit über die Reling gebeugtem Oberkörper hing er in den Seilen und gab würgende Geräusche von sich. Und das Baby in Sparrows Arm schrie noch immer. »Schon gut, kleiner Varel, ganz ruhig, mein Varelian«, flüsterte der Schiffsjunge, wie er es bei seiner Mutter gehört hatte. Mit der linken Hand löste er behutsam die Tücher, in die der Säugling gewickelt war. »Kein Wunder, daß er so plärrt, der kleine Hosenscheißer«, brummte er vor sich hin. Der kleine Prinz kiekste vor Vergnügen und schien es für einen großartigen Spaß zu halten, als Sparrow die Windel angewidert über Bord schleuderte.

»Hee, paß doch auf«, beschwerte sich Orh, dessen Kopf in diesem Augenblick wieder aus der Tiefe auftauchte. Doch Sparrow drückte ihm nur kurz das Kind in die Hand und glitt ins dunkle Achterschiff davon. Einen Moment später war er bereits wieder da, in der Hand die zerfetzten Reste des Vorsegels, das der Sturm am Abend in der Mitte durchgerissen hatte, und ein kleines Fläschchen mit Seehundsfett, das eigentlich dazu diente, die Ketten und Eisenbeschläge an Bord einzufetten und vor Rost zu schützen.

»Meinst du, du bekommst das hin?« fragte Orh besorgt. Er hielt das Kind mit spitzen Fingern von sich fort, und das Würgen in seinem Hals kam diesmal nicht vom Seegang.

»Klar«, meinte Sparrow lässig. »Gib ihn mal her, deinen Prinzen.«

Wenig später lag der movennische Thronerbe gewaschen, geölt und neu gewindelt im Arm des Schiffsjungen. Sparrow hatte sogar einen Streifen Dörrfisch in ihn hineinbekommen und einen guten Mundvoll Trinkwasser, denn an Milch für den Kleinen hatte in der Eile des nächtlichen Aufbruchs niemand gedacht.

»Fertig?« fragte Orh.

Sparrow schüttelte langsam den Kopf. »Meine Mutter hat uns Kindern immer noch eine Geschichte erzählt, damit wir besser einschlafen konnten.« »Ho, das ist einfach. Ich werde ihm von meinem letzten Feldzug gegen die Moglàt erzählen. Und wie ich dem verwünschten Fahnenträger den Schädel gespalten habe ...«

»Ach, hör auf. Das macht nur schlechte Träume«, versetzte der Hänfling altklug. »Nein, es muß ein freundliches Märchen sein. Und vielleicht etwas, aus dem er ein wenig über sein Land lernen kann ... Wir wollen ihm vom Leuchtturm erzählen. Vom Leuchtturm Isenfüür am Rand der Welt.« Rand der Welt ist gut, dachte der hochgewachsene Kämpe aus Akkatossa. Bernland, seine Heimat, begann erst eine halbe Meile hinter diesem Leuchtturm. Und weiter im Norden, da gab es auch noch Menschen. Das kleine, fischgesichtige Volk der Plukku lebte dort in Fellzelten und Eishäusern. Aber für einen Moven’Am mochte es angehen, vom Rand der Welt zu sprechen ...

»Weißt du, wohin wir fahren, kleiner Prinz Varel?« flüsterte Sparrow. »Geradewegs auf das Sharkenthökk-Riff fahren wir zu. Ganz oben im Norden liegt es, am äußersten Rand der Welt. Das ist so weit im Norden, daß der Nordwind dort von allen Seiten gleichzeitig mit seinen Sturmfäusten auf See und Schiffe niederjagt. Turmhoch schlägt er die Wellen dort in den Himmel hinein, und man nennt Borh, den mächtigen Nordsturm, nicht aus Langeweile den Flottenverheerer. Unter den eisigen Wellen des Bernländer Nordmeers liegen mehr Schiffe begraben, als Seeleute auf dem Friedhof von Ura ruhen. Mancher stolze Kauffahrer aus Akkatossa oder Pisca liegt dort unter den Wogen, mancher kühne Segler aus Chadashqarth fand dort mit zerschmettertem Bug sein kaltes Seemannsgrab, und die Zahl der Plukku, deren kleine, leichte Fellboote Borh wie totes Laub auseinanderstob, ist höher als die der Sterne am Himmel. Und doch ist der Zorn des mitleidslosen Herrn der Stürme ein freundliches Kinderlächeln gegen das schreckliche Sharkenthökk-Riff, das vor uns liegt ...«

»Wuääääääh!«

»Feine Gute-Nacht-Geschichte«, höhnte Orh. Er war noch etwas bleich um die Nase herum, doch schaffte er es inzwischen wieder, den Kopf oben zu halten. »Besser als meine Moglàt-Schlacht sind deine Schauermärchen ja wohl auch nicht.«

»Ach, warte es ab«, meinte Sparrow ungerührt. »Sieh einmal, Varel, das Sharkenthökk-Riff, das sind rasiermesserscharfe Unterwasserfelsen. Nur höchstens eine Handbreit unter der Meeresoberfl äche liegen sie, so daß kein Ausguck sie jemals entdecken kann. Wenn Borh der Nordwind und die hartherzige Meereskönigin Reene ein Schiff dort hineintreiben – wie eine Messerklinge durch Butter zerschneiden dann die Riffkanten die Schiffskiele, und die Seeleute sind unrettbar verloren. Große, graue Eishaie kreisen rund um die Felsen, und wer sein Leben nicht in den steinernen Messerklingen verliert, der wird von den Eisbestien lebendig verschlungen mit Haut und Haar. Dann kreisen sie rund um das Riff, und nur ihre stahlgrauen Rückenflossen durchschneiden die Wasserlinie. Und wenn die Bluternte für sie gut und reichlich ausgefallen ist, dann will man sie sogar singen gehört haben: »Danke, Mutter des Meeres, für die gute Mahlzeit!«

»Wuääääääh!«

»Ach, du bist ja nicht bei Trost!« schimpfte Orh. »Wie kannst du dem Kind einen solchen Schrecken einjagen!«

»Ach was«, sagte Sparrow. Aber ein klein wenig ärgerte es ihn doch, daß Orh so gar keine Angst zeigte. »Dort an der Küste gab es viele kleine Fischerdörfer, in denen Menschen zu Hause waren, die vom Ertrag der See lebten«, fuhr er fort. »Manche stellten dem Thunfisch und dem Hering nach, manche legten Kastenfallen für Hummer und Krebse aus, und manche heuerten auch auf den abenteuerlichen Walfängern an und kehrten erst nach Jahren wieder zurück – die Taschen voll Gold und den Mund voller Seemannsgarn. Doch viele, und das ist wirklich wahr, lebten auch vom Riff selbst. Sie sammelten Strandgut. Und diejenigen, die das an der Küste angeschwemmte Treibholz sammelten, waren noch die harmlosesten. Manche waren auf die Ladung der Kauffahrer aus, die am Haifischriff gescheitert waren. Und manche, aber das ist nur ein Gerücht, manche sollen sogar absichtlich die Schiffer mit ihren flachen Booten ins Verderben gelotst haben. Das waren böse Zeiten damals.

Nun lebte aber auch in jener Zeit ein kleiner Junge, den sie Elektryon riefen. Er hatte bernsteinfarbene, blitzende Augen und einen wachen Verstand, und oft, wenn die Erwachsenen von tödlichen Havarien auf dem Sharkenthökk-Riff erzählten, stand er dabei und dachte mit gerunzelter Stirn nach. Oft sah man diesen Jungen, wie er am Ufer stand und weit aufs Meer hinausblickte, dorthin, wo man zwar die gefährlichen Felsenriffe nicht sehen konnte, wohl aber die Rückenflossen der Eishaie, die dort draußen ihre Bahnen zogen.«

Prinz Varel hatte aufgehört zu schreien. Aus scharf zusammengekniffenen Augen blickte er den Schiffsjungen an, der mitten im Orkan am Mast hockte und Märchen von Haifischen und Riffen erzählte.

»Als die Zeit herankam, in der die jungen Männer ihren künftigen Beruf wählen sollten«, fuhr Sparrow fort, »da nahm Elektryons Bruder eine Stelle bei einem Kaufmann an. Ein Vetter ging an Bord eines Walfängers. Und mehrere seiner Freunde gingen wohl auch unter die Riffpiraten. »Und du, sag, was möchtest du einmal werden?« fragte man den Knaben. »Ach«, sagte er träumend, »ich will Leuchtturmwärter werden.« Da lachten sie ihn alle aus.

»Du Dummer«, spotteten sie, »an der ganzen Küste gibt es keinen Leuchtturm. Wo willst du denn Leuchtturmwärter sein?«

»Dann werde ich eben selbst einen bauen. Mitten auf dem Sharkenthökk-Riff«, sagte er trotzig. Und als sie weiter lachten, da schnürte er sein Bündel und zog in die weite Welt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen Traum wahr werden zu lassen.

Elektryon zog südwärts. Viele Dörfer und Städte sah er. Aber wo immer er seinen Traum vom Leuchtturm auf dem großen Riff erzählte, erntete er nur Gelächter oder ungläubiges Kopfschütteln. Hilfe fand er nicht, und niemand schien Interesse an einem solchen Signalfeuer zu haben. So gelangte er schließlich auch in die Stadt Dichtaby. Abgerissen und müde, in durchgelaufenen Schuhen, so kam er durchs Stadttor herein, die Haare staubig und das Gesicht voll Schmutz, und nur die Bernsteinaugen des Fischersohnes leuchteten noch immer vom Traum, einen Leuchtturm zu bauen. Ein mitleidiger Schiffsbauer gab ihm schließlich Arbeit in seiner Werft, und für Essen und ein Quartier begann Elektryon mit dem Kalfatern von dickbauchigen Kaufmannsschiffen ...«

»Verstehe kein Wort, und der Prinz auch nicht«, knurrte Orh unwillig. »Was ist Kalfatern?«

»Abdichten«, sagte Sparrow. »Entschuldige, Varel. Er schmierte die Fugen zwischen den Hölzern zu. In seinem Dorf hatte man die Ritzen fest mit Werg verstopft und schwarzes, klebriges Erdpech dazugegeben. Und wenn die ganze Schiffswand mit einer dreifachen Pechschicht überzogen war, dann drang bestimmt kein Wasser mehr ins Innere ein. In Dichtaby aber war vor kurzem das Dibbukit erfunden worden, ein neuer Klebstoff, der wesentlich schneller trocknete als das Fischerpech und dabei auch noch elastisch blieb und nicht riß oder bröckelte wie das Pech, das man spätestens nach der dritten Ausfahrt wieder erneuern mußte. Für eine Weile vergaß Elektryon sogar seinen Traum vom Leuchtturm über der Arbeit mit dem Dibbukit. Doch dann, eines Tages, kam die Nachricht nach Dichtaby, daß der König die Nachbarstadt Urasport besuchen würde. König Flaric wollte dort die Bauarbeiten für das neue Hafenbecken inspizieren. Da beschloß der Junge, mit dem König über seinen Leuchtturm zu sprechen. Er verabschiedete sich also von seinem Schiffsbauer und machte sich auf den Weg nach Urasport. Aber ach, als der kleine Leuchtturmwärter dort ankam, da hingen überall in der Stadt schwarze Flaggen, und das prächtige Königsbanner mit der Lachmöwe auf rotem Grund schwankte traurig auf halbmast. Alle Frauen hatten ihr Gesicht unter schwarzen Tüchern verhüllt. Und als Elektryon um eine Audienz beim König bat, da hieß es, König Flaric sei in Trauer, und er habe schon seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen.

»Das ist ja furchtbar«, sagte der Junge. »Ist denn jemand aus der königlichen Familie gestorben?«

»Nein, etwas viel Schlimmeres ist geschehen«, sagte ein Diener des Königs. »Ein schrecklicher feuerspeiender Drache ist über die Stadt hergefallen und hat des Königs Tochter entführt. Ach, wir werden die liebliche Beryllis sicher nie mehr wieder sehen.«

Da stellte sich Elektryon auf die Zehenspitzen – und tatsächlich, er reichte dem Diener fast bis zur Brust. »Sag dem König, ich werde ihm seine Tochter wieder zurückbringen«, gab der Fischersohn entschlossen bekannt. Und als der Diener sich halb totlachen wollte, machte der Leuchtturmwärter auf dem Absatz kehrt und stapfte mit festem Schritt zum Hafen.

In einer Schiffswerft am Fluß Lethargyrion fand er Arbeit und hatte bald so viel Geld verdient, daß man ihm aus der Werkstatt alles überließ, was er als Drachenjäger gebrauchen konnte – einschließlich eines alten Zinneimers als Helm, eines rostigen Enterhakens und einer großen Anzahl Taue. Auf einem Fischerboot aus Dichtaby vervollständigte er seine Ausrüstung und nahm auch ein Dutzend Stockfische mit auf seine Expedition. So zog er los in die Berge, wohin, wie mehrere Zeugen berichteten, der Drache geflogen sein sollte.

Die Spur des Untiers war nicht schwer zu finden. Überall hatte die Riesenechse schreckliche Verwüstungen angerichtet. Verkohlte Reste von Höfen und Hütten, die der Feuerstrahl des Drachen getroffen hatte, säumten den Weg. Brennende Felder und von Flammen verzehrte Wälder zeigten dem Jungen nur allzu deutlich, wohin der Drache geflogen war. Da, plötzlich, sah er ihn. Hoch oben in den Felsen hatte er seine Höhle. Und er hörte auch schon die Prinzessin Beryllis um Hilfe rufen. Da machte sich der kleine Leuchtturmwärter startklar. Er setzte den Zinneimer auf, den er statt eines Ritterhelms mitgenommen hatte, knotete den Enterhaken an einem der Taue fest und stieß dann einen zweiten Eimer um, der laut scheppernd über die Felsen hüpfte.

Neugierig streckte der Drache seine Nase aus der Höhle, um zu sehen, was dort unten vor sich ging. Soeben hatte der Junge noch einen weiteren Eimer umgestoßen und machte einen Krach, wie ihn der Drache noch nie gehört hatte.

»Hey, komm runter, du blödes Mistvieh!« schrie Elektryon provozierend und ließ den schweren Enterhaken am Seil kreisen. Der Drache mußte vor lauter Lachen husten und spuckte einen Feuerstrahl in Elektryons Richtung, daß sich der Junge nur durch einen Hechtsprung hinter einen Felsblock retten konnte.

»Ist das alles, was du kannst?« rief Elektryon wütend zur Höhle hinauf, als er sich wieder aufgerappelt hatte. »Du traust dich wohl nicht zu mir runter und schickst bloß ein paar Flämmchen, du Feigling«, höhnte er.

Das hatte sich noch niemand getraut. Wutschnaubend breitete der Drache seine Flügel aus und stieß sich vom Fels ab. Er stieg hoch in den Himmel auf, legte dann die Schwingen eng an den Körper und stieß in einem mörderischen Sturzflug auf den kleinen Leuchtturmwärter hinab. In letzter Sekunde sprang Elektryon zur Seite, und donnernd schlug die Echse am Boden auf. Mit wütendem Fauchen fuhr das Tier auf den Jungen los. Doch was war das? Seine Beine steckten fest. Da stand die furchtbare Urzeitbestie und konnte ihre Klauen nicht mehr vom Boden losbekommen. Elektryon hatte nämlich zwei Eimer schnelltrocknenden Dibbukit auf dem Felsboden umgestürzt, und das Ungeheuer war mitten in seine klebrige Falle hineingesprungen. Schnell war Elektryon heran und schleuderte den Enterhaken. Die Leine schlang sich um das Maul des Drachen und zog sich bombenfest zusammen. Nur aus den Nüstern pufften noch zwei dünne, harmlose Flämmchen hervor, dann nichts mehr. Der furchtbare, feuerspuckende Drache war gefangen und konnte niemanden mehr verletzen.«

»Das war sehr tapfer von dem kleinen Kerl«, meinte Orh anerkennend. »Aber ihr Zwerge erzählt ja wohl immer Geschichten, in denen die Kleinen gut dastehen, nicht wahr?«

Sparrow grinste. »Das mag wohl sein, Großer. Und wie du siehst, dem kleinen Varel hat es gefallen. Er lächelt sogar etwas im Schlaf ... Und willst du denn nun hören, wie die Geschichte ausging?«

»Nun, wie wird die schon ausgegangen sein?« knurrte Orh. »Elektryon erhielt die Hand der Prinzessin Beryllis, und nach des Königs Tod wurden die beiden König und Königin über das Land, und sie lebten glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein.«

Sparrow lehnte den Kopf an den Mast und starrte hinaus in die tosende See, die sich wie gewaltige schwarze Bergeshöhen vor ihnen auftürmte. »Nein«, wiederholte er nach einer Weile. »So war es nicht. König Flaric freilich mag es sich so vorgestellt haben, als er den Fischersohn zu sich rief und ihn aufforderte, er solle sich doch etwas wünschen. König Flaric, heißt es, hatte eine gewisse romantische Ader und liebte Geschichten um heldenhafte Drachenbezwinger. »Was es auch sei, um das du bittest, es sei dir gewährt«, versprach der König. Und Prinzessin Beryllis stand dabei und strahlte ihn mit ihren sternenblauen Augen an und lächelte mit ihren rosenroten Prinzessinnenlippen, daß die Welt sich um den jungen Elektryon zu drehen begann. Aber dann nahm er den König fest ins Auge und sprach: »Mein König, einen Wunsch habe ich in der Tat: Bitte schenkt mir den Drachen.«

»Was willst du denn mit einem Drachen?« fragte der König verblüfft.

Aber er hatte versprochen, den Wunsch zu erfüllen, und Könige halten ihre Versprechen. Er ließ also eine Urkunde ausfertigen, in der stand, daß der Feuerdrache dem Elektryon auf alle Zeiten gehören sollte. Und Elektryon rollte das Pergament zusammen und sagte »Dankeschön«, dann verließ er die Stadt.

Es dauerte Wochen, bis der Junge den festgeklebten Drachen gezähmt hatte. In den ersten Tagen schlug die Echse wild mit dem Schwanz und hätte ihn beinahe erschlagen. Und als der große Tag kam, an dem Elektryon ihm das Seil abnahm und der Drache wieder Feuer spucken konnte, da hielten alle, die ihn dabei beobachteten, vor Angst den Atem an. Doch der Junge ließ sich nicht anmerken, wie unheimlich ihm die Situation war. Und die Echse beugte sich zu ihm hinab und fraß einen Stockfisch aus seiner Hand. »Siehst du«, sagte er, »solch einen Leckerbissen will ich dir jeden Tag geben, wenn du mein Drache sein willst und mit mir zusammen arbeitest.« Da nickte das Tier, und Elektryon streichelte ihn sanft zwischen den Ohren.

Wenige Tage später war die Zeit gekommen, in der der Drache seine Haut abstreifte. Denn alle Echsen werfen von Zeit zu Zeit ihren Panzer ab, wenn er alt und zu eng geworden ist, und darunter kommt eine neue, glänzende Haut zum Vorschein. Als sich die festgeklebten Drachenschuppen lösten, jauchzte das Ungeheuer vor Freude auf. Es nahm Elektryon auf seinen Rücken und flog los, so schnell und so hoch, wie die Drachenschwingen das Tier tragen konnten. Elektryon steuerte die Flugbestie nach Norden, bis sie das gefährliche Sharkenthökk-Riff erreichten. Hier landete der Drache, und als er auf dem scharfkantigen Felsen stand, da wurden gerade mal seine Fußsohlen naß, so groß war er.

Nacht für Nacht stand der Drache von nun an auf dem Riff, und wann immer sich ein Schiff den verhängnisvollen Felsen nährte, stieß er einen hellen Feuerstrahl in den schwarzen Himmel, so daß die Schiffer gewarnt waren. Und seither ist niemals wieder ein Schiff dort gescheitert, denn ob es auch stürmte oder ob wie aus Kübeln Wasserstürze auf sie einjagten, Elektryon und sein Drache hielten getreulich auf dem Riff Wacht und warnten die Seeleute.

Später ließ der König auf dem Felsen einen gemütlichen kleinen Leuchtturm für die beiden errichten, und der steht noch heute am Sharkenthökk-Riff: ein Turm aus grauen, grünbemosten Felsen mitten auf dem tödlichen Riff, und er hat oben drei riesige Fenster aus poliertem Bernstein, durch die sein Suchstrahl auf die Wellen fällt – Dort!«

Sparrow wies mit weit ausgestrecktem Arm nach vorn. Am nördlichen Horizont war ein helles Licht aufgeflammt. »Leuchtturm voraus!« vermeldete die volltönende Stimme Wannewers. Trotz des Sturms war der Ruf des Ausgucks an jedem Punkt des Schiffs zu hören. »Geschafft«, freute sich Löwener. »Jetzt ist das Schlimmste überstanden.«

Harrods Kommandos vom Heck aus schallten durch die Nacht, und wenig später drehte sich die Lachmöwe aus dem Wind. Löwener und Sparrow knüpften mit flinken Fingern die Reffleinen auf. Schon blähten sich die Segel stolz im Sturm. Das Schiff lag nun wesentlich ruhiger im Wasser, und auch Orh lächelte zufrieden, als er sah, wie sich Harrods Kristallscheibe quer zur Schiffslinie drehte. »Den Kurs laß ich mir gefallen, Kapitän«, lachte er. »Und das Drachenlicht da vorne auch ...«






© Petra Hartmann