König Surbolds Grab

"Und so fiel König Surbold in der Schlacht auf den singenden Feldern," schloß Aeshna ihre Erzählung und bemühte sich, nicht auf das Lärmen der Krieger zu achten. Es war wichtig, daß die Enkelin die Geschichte König Surbolds kannte, wie sie wirklich war. Nicht die, die Harvarts Krieger verbreiteten, wenn sie aus den Schenken gewankt kamen. "So also war König Surbold," murmelte Lournu versonnen. Sie schmiegte sich enger an die Großmutter, und beide blickten in das Lagerfeuer. Es war dunkel um sie, schon vor Stunden war die Sonne untergegangen, und Harvarts Krieger lärmten noch immer. Da war es gut, wenn man in die Flammen starren konnte und ein wenig Ruhe und Kraft sammeln für den weiten Weg, der noch vor ihnen lag.

"Na, alte Hexe, erzählst du der Kleinen eine Gute-Nacht-Geschichte?" Harvart, der an allen Feuern des Lagers einige Minuten verweilt hatte, war zu den beiden Frauen getreten. Lournu wußte, daß Aeshna den fremden König nicht leiden konnte, und schob die Unterlippe trotzig vor. "Großmutter hat mir von König Surbold erzählt. Das war ein mächtiger König und immer gut und freundlich. Er hat in den alten Zeiten geherrscht, lange bevor deine Leute nach Movenna gekommen sind und alles zerstört haben." Harvarts Hand fuhr zum Schwert, doch der Blick der alten Aeshna ließ ihn zurückschrecken. Lächelnd streichelte er dem Mädchen über den Kopf. "Aber deine Großmutter hat dir sicher nichts von König Surbolds Grab erzählt, nicht wahr?" Lournu schüttelte den Kopf, und ohne sich um die wütenden Blicke Aeshnas zu scheren, ließ sich der König am Feuer nieder und zog den Mantel enger um sich. "Dann werde ich dir davon erzählen," sagte er ruhig. "Denn warum sollte jeder hier im Lager unser Ziel kennen, nur unsere süße kleine Geisel nicht." Er schwieg eine Weile und kostete die Wut der beiden Frauen genußvoll aus. Endlich begann er mit der sanften Stimme eines Märchenerzählers:

"Als König Surbold gestorben war, da hoben ihn seine Mannen auf vom Schlachtfeld und setzten ihn auf sein Pferd. Bis in das Tal der tanzenden Schatten, das weit im Norden Movennas in den Bergen der eisigen Einsamkeit liegt, brachten sie seinen Leichnam und schufen ihm dort ein Grab, wie es die Menschheit bis dahin noch nicht gesehen hatte und wie es auch auf Erden kein zweites Mal errichtet werden wird, so hoch und groß war dieses Hünengrab des Königs Surbold. Allein der Felsen, der oben auf dem Grabhügel liegt, ist so groß, daß weit über einhundert Schafe darauf stehen können. Und ganz oben auf dem Felsen ist eine Inschrift eingegraben. Weißt du wohl, wie die lautet?" Verwundert schüttelte Lournu den Kopf. "Und du, Alte?" Aeshna biß sich wütend auf die Lippen und sagte keinen Ton. "Ich will es dir verraten, meine Kleine," fuhr Harvart aufgeräumt fort und schnalzte mit der Zunge. "Da steht geschrieben: < Wunner äwer Wunner - wat leit woll dar unner >. Wunder über Wunder, was liegt wohl darunter. Das steht darauf." "Und was liegt darunter?" fragte Lournu gespannt. "Das weiß niemand. Viele hundert Männer haben schon versucht, den Stein zu heben. Aber der schwere Fels auf König Surbolds Grab widerstand all ihren Versuchen und rührte sich nicht von der Stelle. Und so hat bis heute noch niemand herausgebracht, was dort liegt unter dem gewaltigen Grabstein im Tal der tanzenden Schatten."

"Jeder weiß es," grölte ein vierschrötiger Kerl am Nachbarfeuer. Jorn, Harvarts erster Krieger, stand auf und kam zu ihnen herübergestapft. "Jeder weiß, was dort vergraben liegt. Was kann dort anderes liegen als der Schatz des alten Surbold, hä? Sag mir das mal." Harvart lächelte flüchtig über den Eifer seines Heerführers. "Es ist wahr," nickte er dann Lournu zu. "Was kann dort anderes liegen als der märchenhafte Reichtum des alten Königs. Gold und Silber in Fülle soll er besessen haben, dazu Diamanten und Perlen und Schmuck. Möchtest du nicht auch einen solchen Schatz haben, kleine Lournu?" Lournu schob die Unterlippe noch weiter vor. "Ich jedenfalls träume schon seit meiner Kindheit davon," gestand Harvart. "Und wenn ich ehrlich sein soll: Nur deswegen bin ich in euer Land eingefallen." Lournu lachte. "Na, König, das ist aber wirklich dumm. Wie willst du denn den Stein hochheben, wenn er tatsächlich so schwer ist, wie du sagst?" Der König grinste und sah zu Aeshna hinüber. "Ihn zu heben wird Aufgabe deiner Großmutter sein. Denn wo rohe Gewalt versagt, muß eben die Magie ran." Aeshna schüttelte traurig den Kopf. "Ich habe dir schon mehrfach gesagt, daß ich nichts von Magie verstehe. Daß du das nicht einsehen willst." "Ich habe deine Taten gesehen, alte Frau," widersprach der König. "Wie du die Pfeile in der Schlacht in Rauch aufgehen lassen hast. Wie du die Kranken geheilt hast und das tote Kind wieder zum Leben erweckt. Wie konntest du das tun, wenn du, wie du sagst, nichts von Magie verstehst?" Aeshna starrte in die Flammen und antwortete nicht. Erst nach einer Weile murmelte sie, mehr zu sich selbst als an den König gerichtet: "Vielleicht versteht ja die Magie ein wenig von mir..."

"Großmutter wird den Stein heben, den keine Macht heben kann," sagte Lournu überzeugt. "Und dann wird sie ihn auf dich drauffallen lassen, daß du ganz zermatscht wirst. Das hast du dann davon." Harvart fuhr erschrocken zurück, doch gewann er seine Überlegenheit sofort wieder. Mit bösem Grinsen zischte er: "Und genau darum habe ich dich mitgenommen, du kleine Ratte. In jedem Augenblick sind zwanzig Pfeile auf dich angelegt, und wenn deine Alte nicht spurt, dann..." Er machte eine vielsagende Pause, und auch Lournu schwieg betroffen. "Ich denke, es ist besser, wenn du uns nun schlafen läßt, stellte Aeshna ruhig fest. "Es ist noch ein weiter Weg, und du willst sicher nicht, daß die Kleine unterwegs schlappmacht und deinen ganzen schönen Marsch verzögert." Harvart erhob sich vom Feuer. "Du hast Recht. Ich möchte sowieso noch ein wenig mit dem Techniker plaudern." Er nickte hinüber zu dem kleinen schmächtigen Mann am Nachbarfeuer, der sich seltsam fremdartig zwischen all den muskelbepackten Riesen ausnahm. "Wer wird sich schließlich allein auf Hexen verlassen, wenn es um Schätze geht." Er und Jorn stapften davon, während sich die beiden Frauen zum Schlafen niederlegten.

"Glaubst du an einen Schatz in Surbolds Grab?" flüsterte Lournu leise. "Vielleicht," murmelte Aeshna. "Eine Sage hat immer einen wahren Kern. Nur ob der Schatz Harvart gefallen wird, da bin ich mir gar nicht so sicher."

*

Lournu schlief tief und fest in dieser und in allen darauffolgenden Nächten. Sie bewegte sich mit der unbekümmeten Sorglosigkeit eines Kindes zwischen den Soldaten Harvarts, ließ ihr Pony bald neben dem einen, bald neben dem anderen Ritter hertraben und wußte sogar mit dem finsteren Jorn ungezwungene Gespräche anzuknüpfen. Aeshna sah es nicht ohne Sorge. Zum wiederholten Male fragte sie sich, ob die Kleine nicht zu sehr auf die Kunst ihrer Großmutter vertraute. Denn es stimmte schon, was Harvart gesagt hatte: Die Soldaten ließen Lournu nicht aus den Augen, und ununterbrochen hatten die Bogenschützen auf sie angelegt. Aeshna hätte mit den Kriegern spielend fertig werden können. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn mit der Magie war das so eine Sache. Man wußte vorher nie ganz genau, was passieren würde. Harvart würde das niemals begreifen. Lournu vielleicht. Später einmal. Wenn sie nicht vorher erschossen wurde.

Aeshna seufzte. Der Weg durch die eisigen Einöden war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Mit Genugtuung stellte sie fest, wie heruntergekommen das ehemals so stolze, schmucke Heer des fremden Königs aussah. O, es waren nicht bloß der Frost und der eisige Wind, die hier an den Nerven der Soldaten zerrten. Es war die Eiswüste selbst. Selbst die Leute aus Movenna durchquerten das Eisland nie ohne eine gewisse Scheu und waren dankbar, wenn sie unversehrt an Leib und Seele wieder heraus kamen. Denn in der ewigen Einsamkeit des Eises, unter dem ewig weißen Himmel mit dem ewig gleichen, einförmigen Horizont, gab es nichts als das Nichts. Nur noch das Nichts, dem schon der Einzelne nicht ohne weiteres gegenüber zu treten wagte. Um wieviel mehr diese riesige Armee. Wenn die Philosophen und Magier Movennas sich am Ende ihrer Ausbildung einige Wochen in das weiße Nichts zurückzogen, dann war dies trotz jahrelanger Vorbereitung immer noch eine höchst gefährliche Angelegenheit, und es kam immer wieder vor, daß jemand nicht zurückkehrte aus dem Nichts. Der tanzte nun wohl als Schatten mit den Geistern der Ahnen in Surbolds Tal um den Felsen des Königs.

Aeshna sah besorgt zu Lournu hinüber. Sie hatte versucht, die Enkelin auf die Eiswüste vorzubereiten. Hatte versucht zu erklären, daß alle Wesen und Geister in der Wüste den Bewohnern Movennas freundlich gesonnen waren. Und auch, daß man sich mit dem Nichts befreunden mußte, um es zu überleben. Viele von Harvarts Kriegern hatten es nicht verstanden, mit der eisigen Einöde umzugehen. Wie sollten sie auch, dachte Aeshna grimmig. Die meisten waren Söldner, nachgeborene Bauernsöhne zumeist, ausgesetzte Waisen die anderen. Gestrandete, auf deren Ausbildung niemand auch nur die geringste Mühe verwandt hatte. Gib ihnen ein Schwert in die Hand und jage sie in die Schlacht. Kehren sie lebendig zurück, so hast du erfahrene Soldaten, und du kannst sie in die nächste Schlacht schicken. Kehren sie nicht zurück, hast du wenigstens den Sold gespart und kannst dir neue damit kaufen. Aeshna schüttelte den Kopf. Es war kein Wunder, wenn diese Menschen in der Eiswüste durchdrehten. Eben erst war wieder einer von ihnen in irrsinniges, tierhaftes Geschrei ausgebrochen, war vom Pferd gesprungen und in wahnwitzigem Lachen davongestürzt, und sie fanden ihn nicht mehr wieder. Und Lournu?

Aeshna lenkte ihr Pferd näher an die Kleine heran und hörte zu, wie das Mädchen fröhlich auf den finster vor sich hinbrütenden Jorn einschwatzte. War es Bosheit, daß das Mädchen die Nerven des bis aufs Äußerste gereizten Kriegers mit Erzählungen aus den heiteren Tagen Movennas malträtierte? Aeshna glaubte es fast. "König Surbold war ein fröhlicher Mann," plauderte Lournu munter und schlenkerte mit den Beinen unaufhörlich an der Seite ihres Ponies hin und her. "Seine Regierungszeit wird auch als das lachende Zeitalter Movennas bezeichnet. Kein Tag ging ins Land, an dem es nicht wenigstens einmal ein Gelächter gab, das selbst die Berge der eisigen Einsamkeit erschütterte. Solch ein König war König Surbold." Jorn lachte böse. "Und das macht also deiner Meinung nach einen großen König aus, ja?" "Man erinnert sich an ihn," stellte Lournu einfach fest. "Was ist schon ein König ohne Humor. Deinen lächerlichen Schattenkönig habe ich noch niemals lachen sehen. Und darum wird er eher vergessen sein, als du vielleicht glaubst."

"Ach wirklich, ist das so?" Harvart hatte die unangenehme Angewohnheit, sich besonders leise von hinten zu nähern. Er hatte die letzten Worte des Mädchens mit angehört und trieb nun seinen Hengst drohend an das Pony heran. Doch Lournu ließ sich nicht einschüchtern von seinem finsteren Blick. "Sicher," sagte sie. "Ein König, der keinen Sinn für Humor hat, ist es nicht wert, daß man sich seiner erinnert." "Wenn ich erst mit deinem Land fertig bin, wird sich garantiert niemand mehr an deine großartigen Könige erinnern," drohte er. Lournu lachte hellauf, und dann sang sie die Kette der alten Könige hinunter, wie Aeshna es sie unterwegs gelehrt hatte, und sie vergaß keinen einzigen dabei:

"Surbold als erster war König Movennas

ihm folgte sein schöner Sohn Vidger

dann Glaukos und Henna

Katlyna Selanna

und Wulfric der König der Schwerter

von hoher Gestalt war Eirikir

und Flaric ein freundlicher Mann

schönen Künsten zugetan

dann Vagn der Starke und Luthold der Rasche

mit heller Stimme auch Lathmon und Kyris

so sind die Könige Movennas

mit Lorman und Orsan

richtig aufgezählt."

Sie schaute beifallheischend zu Aeshna hinüber, und die Alte nickte zufrieden. Lournu hatte die Reihe der alten Könige auf dem Wege sorgfältig auswendig gelernt. Wieder schrie einer der Soldaten. "Dich werfe ich im Tal den tanzenden Schatten vor, du freches Ding," grollte Harvart. Doch Lournu lachte nur. "Die Schatten im Tal sind die Geister meiner Ahnen," stellte sie fest. "Und die alten Könige sind dort. Glaubst du, sie werden ein Mädchen aus Movenna anrühren? Sei auf der Hut, fremder König. Es sind nicht deine Ahnen, die bei Surbolds Grab tanzen." Damit stieß sie ihrem Pony die Fersen in die Weichen und lenkte es hinüber zu den Bogenschützen.

"Deine Enkelin wird sehr frech, alte Frau," brummte der fremde König Aeshna zu. "Du solltest ihr etwas mehr Respekt beibringen, das ist sicherer für sie." "Sie hat fast alles gelernt, was ich ihr auf dieser Reise beibringen wollte," entgegnete Aeshna. Wieder brach einer der Krieger in wahnwitziges Schreien aus. "Heb du nur morgen den Stein," drohte Harvart. Dann trieb er den Hengst an und sprengte davon.

*

 

Das Tal. Aeshna war schon oft im Tal der tanzenden Schatten gewesen. Und doch hatte der Ort für sie nichts von seinem geheimnisvollen Zauber verloren. Dunkle Berghänge, reichbewaldet, umschlossen das Tal, und in langsamen, würdevollen Wellenbewegungen glitten Licht und Schatten durch das dunkle Laub der Bäume. Schattengeister, die alten Mächte Movennas, wohnten im Tal, helle und dunkle Erinnerungen, und König Surbold war einer von ihnen. Harvart war sehr schweigsam geworden, seit sie das Tal betreten hatten. Bösen, bleichen Gesichtes bewegte er sich durch die Schatten der Bäume, ein falscher König unter den Schatten Movennas, und biß nervös auf seiner Unterlippe herum. Auch die Krieger waren sehr still geworden, als spürten auch sie die Heiligkeit dieses Ortes.

Als der Wald sich lichtete, schrie Harvart auf. Was immer er aus den alten Legenden über Surbolds Felsen erfahren haben mochte, so groß hatte er sich das Grabmahl des Königs nun doch nicht vorgestellt. Wie erstarrt stand er vor der gewaltigen Felsplatte, eine lächerliche rotäugige Fliege, und mit blutunterlaufenen Augen las er die Inschrift: "Wunner äwer wunner - wat leit wol dar unner".

"Eine reizvolle Aufgabe, in der Tat," stellte der kleine Mann fest. Der Techniker war der einzige, den die Aura des Tales nicht angerührt hatte, und Aeshna konnte es fast körperlich fühlen, wie unter den trockenen Worten der Zauber zerbrach. Die Schatten wichen, und plötzlich war die Felsplatte über Surbolds Grab nicht mehr als ein gewöhnlicher Grabstein. Ein besonders großer Stein vielleicht, doch nichts was man nicht mit Hilfe von Rollen, Keilen und Seilwinden von der Stelle bewegen konnte. Die Soldaten Harvarts atmeten auf, und schon machten erste Scherzworte die Runde. "Siehst du, kleine Kröte," grinste Jorn triumphierend zu Lournu hinüber, "wir brauchen deine Großmutter nicht einmal. Wir sind moderne Eroberer, mit uns marschiert eine neue Zeit in Movenna ein." Lournu sagte nichts darauf.

Der kleine Techniker hatte inzwischen seine Werkzeuge ausgepackt und gab den Soldaten seine Anweisungen. Harvart stand dabei, fast sah es aus, als habe der König abgedankt und die Macht in die Hände des schmächtigen Mannes gelegt. Und die riesenhaften Krieger, die den Techniker auf der Reise oft genug verlacht und verspottet hatten, nun sprangen und liefen sie nach seinem Befehl mit einer Demut und Bereitwilligkeit, die sie Harvart gegenüber nie gezeigt hatten. Hundert mächtige Eichen fällten Harvarts Männer an diesem Tage. Andere hoben einen tiefen Graben am Fuße der Steinplatte aus, wieder andere trieben Keile unter den Felsen oder verarbeiteten die Eichenstämme zu Hebeln und Rollen, während der Techniker mehrere Seilwinden anbrachte. "Ich glaube," flüsterte Lournu der Großmutter zu, "der kleine Mann ist gefährlicher als König Harvart." Aeshna nickte stumm.

Kurz vor Sonnenuntergang war der Techniker bereit. Tausend schwitzende und schwer atmende Riesen standen still und warteten auf seinen letzten Befehl. Seile, Hebel, Rollen, Keile und die riesenhafte Armee Harvarts, all dies stand bereit, harrte auf das Wort des mächtigsten Mannes in Movenna. Und er sprach es aus: "Jetzt."

Da legten sich eintausend Riesen in die Seile, eintausend Männer zogen, schoben, drückten, hoben, eintausend Beinpaare stemmten sich gegen die Erde. Mächtig traten die Muskeln der Krieger hervor, Adern drohten zu platzen, Sehnen zu reißen, und der Fels hatte sich noch immer nicht geregt, doch dann - "Sieh nur, Großmutter, der Felsen!" rief Lournu erschrocken aus - hob sich die gewaltige Steinplatte, erst langsam, endlich mit einem einzige mächtigen Ruck richtete sie sich auf und schlug dann donnernd um. Eintausend Krieger stürzten zur Erde und blieben keuchend im Gras liegen. Der Felsen war bewegt worden, doch keiner der Soldaten hatte noch Kraft genug, zum Grab zurückzukehren. Einzig Harvart, ein sehr alter, einsamer Mann, stand vor dem Felsen und las die Inschrift, die an der Unterseite der Grabplatte eingemeißelt war: <Das was Tied, dat ek kom op anner Siet>, las er fassungslos und starrte in das leere Grab hinein. Das war Zeit, daß ich auf die andere Seite komme. Kein Gold, kein Silber, kein Schmuck. Dafür das Heer vollkommen zugrunde gerichtet und die Soldkasse leer. Das Gelächter in Movenna, das über ihn hereinbrechen würde, konnte er schon jetzt hören. Lachte es dort nicht bereits aus den Schatten um ihn herum, lachten nicht selbst die Schatten Movennas über den lächerlichen Eindringling? Harvart preßte die Hände auf die Ohren, aber das Gelächter wollte kein Ende nehmen, da lief er davon, tiefer und tiefer in den Wald hinein, und niemand in Movenna hat ihn je wieder gesehen.

*

"Was sollen wir jetzt tun, Großmutter?" fragte Lournu leise, als sich die Soldaten nach und nach davongemacht hatten und es still und dunkel geworden war im Tal.

"Aufräumen," sagte die Alte. "Faß mal mit an." Als Lournu die Hand an die Steinplatte legte, spürte sie ein eigenartiges Kribbeln in den Fingerspitzen, das sich durch ihren ganzen Körper fortsetzte. "Ist das jetzt Magie?" flüsterte sie ehrfürchtig. "Ich weiß es nicht genau," entgegnete Aeshna. Vorsichtig hoben die beiden Frauen die Felsplatte auf und legten sie zurück auf das Grab, wo sie hingehörte. Dort liegt sie heute noch, und jeder, der versuchen will, sie zu heben, wird sie leicht finden. Sie liegt im Tal der Schatten, wo die Geister Movennas tanzen, und auch Lournu und Aeshna sind schon seit langen Zeiten dort.