Der Waldalte

Ask zuckte zusammen, als der lautlose Schatten über ihn hinwegstrich. Der Nachtvogel glitt zwischen den Eichenstämmen dahin und war sofort wieder im Dunkel verschwunden. Erst in der Ferne stieß das Tier einen heiseren Ruf aus, ein helles Aufquietschen zerriß die Nacht, als der gebogene Schnabel das dünne Genick durchschlug, dann eisige Stille, in der der Todesschrei der Maus beängstigend nachhallte. Ein Schauer fuhr dem Jungen über den Nacken. Seine Finger krampften sich um den dünnen Kaninchenbogen. Die Waffe war gut geeignet, um kleine Pelztiere zu erlegen, doch gegen die Gespenster des nördlichen Waldes waren die leichten Pfeile machtlos, das wußte er.

„Das war nur ein Käuzchen“, sagte er laut und hoffte, die anderen würden das Zittern seiner Stimme nicht bemerken. Die Töne kamen falsch und quiekend aus seiner Kehle. Wie der Todesschrei einer Maus. „Ein ganz kleiner Nachtvogel, nicht viel größer als eine Maus. Ein geschickter Jäger könnte ihn im Flug treffen.“

„Das wagst du nicht“, flüsterte Rowan. Der braune Wuschelkopf seines kleinen Bruders tauchte neben ihm im Mondlicht auf und warf einen Schatten wie ein gewaltiger Höhlenbär. Sagitta, die Schwester, sagte nichts. Aber Ask wußte, daß sie einen Pfeil an die Sehne ihres Kaninchenbogens gelegt hatte und nach der kleinen Eule Ausschau hielt. Ask holte tief Luft. „Es wird nicht wiederkommen“, sagte er. Entschlossen richtete er sich auf und zog sein dünnes Jäckchen aus Kaninchenfell enger um sich. Das Laub raschelte unangenehm laut unter seinen nackten Füßen. „Wir gehen weiter“, bestimmte er und stapfte in die Richtung, in die das Käuzchen geflogen war. „Ein echter Waldwohner kennt keine Angst.“

„Genau, der kennt keine Angst“, echote Sagitta und warf Rowan einen trotzigen Blick zu.

Zum wiederholten Male überlegte Ask, ob es nicht ein Fehler gewesen war, die Fünfjährige mitzunehmen. Aber die kleine Schwester schlief im gleichen Raum wie er und Rowan und hätte sie ganz sicher verpetzt, wenn er nicht versprochen hätte, daß sie dabei sein durfte. Außerdem, das mußte er ihr zugestehen, die Kleine hielt sich weitaus besser als Rowan im unheimlichen Nordwald. Und wenn er etwas ehrlicher mit sich selbst gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, daß das Mädchen als einziges der drei Kinder keine Angst zeigte.

Irgendwo vor ihnen rief wieder das Käuzchen. Ask schritt gleichmäßig weiter und bemühte sich, möglichst fest aufzutreten. Ein trockener Zweig knackte unter seiner Fußsohle. Da besann der Junge sich und wechselte wieder in den leisen, federnden Schritt über, den er von seinem Vater gelernt hatte. „Die Waldwohner sind ein Teil des Waldes, und sie rühren das Laub nicht auf“, hatte er gesagt. „Sacht wie ein fallendes Blatt ist der Schritt des Jaran-Dem. Der Hase hört ihn nicht, der Uhu sieht ihn nicht, der Hirsch wittert ihn nicht, bis ihm sein Pfeil ins Herz dringt.“

„Und wenn es nun doch der Waldalte war?“ flüsterte Rowan.

Ask fuhr zusammen, als der Bruder lautlos neben ihm auftauchte. „Schleich nicht so“, zischte er. „Um ein Haar hätte ich dich erschossen.“

Er senkte den Kaninchenbogen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Nächte waren schon empfindlich kühl geworden. Trotzdem war seine Hand schweißnaß, als er sie wieder zurückzog, und er wischte sie sorgsam an der Jacke ab, bevor er die Sehne wieder berührte. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Bogensehne feucht würde.

„Ask?“ wiederholte Rowan. „Was, wenn es doch der Waldalte war?“

„Den Waldalten gibt es nicht“, knurrte Ask. „Das ist nur ein dummer Aberglaube.“

„Ja, das ist ganz dummer Aberglaube“, bestätigte Sagitta ernsthaft. „Ich wette, ich kann den Waldalten erschießen, wenn er kommt. Ask, glaubst du, daß ich ihn treffen kann, wenn er kommt, der dumme alte Aberglaube?“

„Still jetzt“, fuhr Ask sie an. „Ich glaube, wir sind jetzt ganz nahe dran. Wenn ich mich nicht irre, muß da vorne schon die Felswand anfangen.“

Eine dunkle Wolke schob sich vor den Mond, und plötzlich war es stockfinster. In der Ferne schrie wieder das Käuzchen.

„Ihr wartet hier“, bestimmte Ask und schubste die beiden Geschwister hinter einen breiten, knotigen Eichenstamm. „Rowan, paß auf Sagitta auf“, befahl er. Dann rückte er seinen Köcher mit den leichten Kaninchenpfeilen zurecht und huschte davon. Lautlos wie ein Schatten verschwand er im Unterholz.

„Glaubst du, er kriegt den Stein?“ fragte Sagitta. Sie spähte neugierig hinter dem Bruder her. „Ich glaube ganz bestimmt, daß er ihn kriegt.“

„Still.“

Rowan schob sie tiefer in die Mulde hinein. Ängstlich lugte er über den Rand ins Dunkel. Wieder schrie das Käuzchen. Es schien, als komme der Ruf wieder näher.

„Guck mal, ich kann auch wie ein Käuzchen machen“, sagte Sagitta. „Hu-hhuuuh, hu-hhuuuh.“ Sie hatte mit beiden Händen eine Hohlkugel geformt und blies aus vollen Backen gegen die Daumenknöchel. Es klang nicht besonders eulenähnlich, aber doch unheimlich genug, um Rowan einen Schauer über den Rücken zu jagen.

„Still, sonst hört dich der Waldalte“, fauchte er die Schwester an.

„Ask hat gesagt, das ist nur ein dummer Aberglaube“, begehrte sie trotzig auf. „Und Aberglauben haben keine Ohren.“

„Ach, Ask weiß auch nicht alles.“ Ärgerlich schob Rowan das Laub zur Seite. Es machte ihn wütend, daß die kleine Schwester gar keine Angst zeigte. „Der Waldalte ist fürchterlich“, raunte er mit heiserer Stimme. „Und wer ihn des Nachts im Wald trifft, der wird seines Lebens nicht mehr froh. Die wahnsinnige alte Ulma hat ihn gesehen in der Nacht, als sie ihren Verstand verloren hat. Und Kedwig muß ihn auch getroffen haben, damals, als sie ihn gefunden haben, das Gesicht auf den Rücken gedreht, mit grausam entstellten Zügen.“

Rowan holte tief Luft. Sagitta sagte nichts. So, jetzt hatte die kleine Nervensäge endlich auch begriffen, daß dies hier kein fröhlicher Waldspaziergang war. Triumphierend fuhr er fort:

„Der Waldalte war ein mächtiger Fürst und hat damals über all dies Land geherrscht. Das war in den alten Zeiten, als es hier noch keine Bäume gab. Nur die grausigen Geisterklippen, wo Ask jetzt ist, mit ihren schrecklichen Dämonenfratzen, die starrten damals schon drohend nach Norden. Aber das Land ringsum war kahl und nackt. Und nur der Waldalte, der damals noch der Bergfürst hieß, hockte auf seiner himmelhohen steinernen Burg und sah weit übers Land.“ Rowan räusperte sich. Ein unangenehmes Kratzen in seiner Kehle hinderte ihn am Sprechen. Doch seit er Sagitta Angst machen konnte mit seiner uralten Schauergeschichte vom Waldalten, war er schon wesentlich mutiger geworden. Die Kleine neben ihm sagte nichts. Gut so. Leise fuhr er fort:

„Eines Tages sah der Alte in seinen Zauberspiegeln die Sonnentochter. Sie war so wunderschön, daß er sich sofort in sie verliebte. Da stieg er hinunter zu den schwarzen Felsen, wo die Dämonen am grausigsten und am scheußlichsten in den Himmel starren, und rief den Bösen an. Dreimal rief er seinen geheimen Namen, und als er ihn das dritte Mal gesagt hatte, da teilten sich die schwarzen Klippen, und der Böse kam heraus – aaah!!!“

Ein weicher, lautloser Flügel hatte ihn gestreift. Gleich darauf glommen über ihm im Geäst der alten Eiche zwei bernsteingelbe Augen auf. „Hu-hhuuuh?“ klang es fragend. Rowan riß den Bogen hoch, packte in fiebernder Hast seinen Köcher und verschüttete dabei seine sämtlichen Pfeile. Als er endlich einen der dünnen Schäfte an die Sehne gebracht hatte, war das unheimliche Augenpaar verschwunden. „Das war nur das Käuzchen, Sagitta“, flüsterte er. „Der Waldalte ist längst tot. Glaube ich.“

Wieder räusperte der Junge sich. „Weißt du, Sagitta, der Alte, er wollte die Sonnentochter unbedingt haben. Darum hat er den Bösen gerufen. ‚Schaffe mir das Mädchen her‘, verlangte er von dem furchtbaren Geist. ‚Ich will dir geben, was immer du von mir verlangst.‘ ‚Der Preis ist deine Seele‘, sagte der Böse. Und jener erwiderte: ‚So sei es. ‘ Da flog der Böse in seinem Drachenwagen durch die Nacht bis in den höchsten Himmel hinein, holte die Sonnentochter auf die Erde und brachte sie ins steinerne Schloß des Alten.

Der Bergfürst war glücklich, als er seine Braut in die Arme schloß. Aber das Glück währte nicht lange. Denn auf der Fahrt durch den Himmel hatte der giftige Atem der Drachen die junge Frau gestreift, sie trug den Keim des Todes bereits in sich. Am Tag nach der Hochzeit war sie blaß und sprach nicht. Drei Tage später war sie zu schwach, um auch nur das Bett zu verlassen. Die Zauberer schüttelten traurig den Kopf und gaben sie auf. ‚Sie muß sterben‘, sagten sie dem Alten. ‚Wenn sie morgen noch am Leben ist, dann wäre das schon ein großes Wunder. ‘ Da weinte der Alte.

Doch dann ging er wieder zu den Dämonenfelsen und rief zu den schwarzen, steinernen Fratzen den Namen des Bösen hinauf. Und wieder teilten sich die Berge. ‚Was willst du denn nun noch?‘ grollte der Böse. Und der Alte bat, er solle die Sonnentochter wieder gesund machen. ‚Das kann ich wohl‘, zischte der Böse. ‚Doch wenn ich’s tue, dann werde ich morgen Nacht schon zu dir kommen und deine Seele und dein Leben von dir fordern.‘ ‚So sei es‘, sagte der Alte. Und er schlich sich traurig nach Hause.“

Rowan lauschte. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, schleichende Schritte im Laub zu hören. Aber es war wohl nur der Wind gewesen. Der Wind oder der Waldalte.

„Am nächsten Morgen“, flüsterte er, „war die Frau gesund und munter, und sie lachte und sang fröhliche Lieder. Aber der Alte war blaß und grämlich, er konnte sich gar nicht mehr freuen. Er dachte nur immer an die Mitternacht und daran, daß der Böse ihn holen würde. ‚Ach wo‘, lachte da die Sonnenfrau, als er ihr erzählte, was er getan hatte. ‚Gräme dich nicht, Mann, ich will schon mit ihm reden.‘ Und als die Mitternacht kam und der Böse den Alten holen wollte, da stellte sich die Frau ihm entgegen. ‚Es ist nicht recht, daß wir, wo wir doch gerade erst geheiratet haben, gleich wieder auseinander sollen. Höre, Böser, diesen Vorschlag will ich dir machen: Laß uns noch solange zusammen leben, wie wir für eine Saat und eine Ernte brauchen, und wenn die Ernte eingebracht ist, dann magst du uns beide haben.‘ ‚Das ist mal ein Wort‘, lachte der Böse. Und er fuhr mit lautem Jubel wieder in die schwarze Felswand zurück.“

Sagitta atmete tief und ruhig neben ihm. Sie hatte den Kopf an den Eichenstamm gelehnt. Irgendwo in der Ferne strich der Wind um die Dämonenfelsen, es klang wie Klagerufe der verlorenen Seelen. „‚Bist du nicht klug, Frau‘, jammerte der Bergfürst, als der Böse verschwunden war. ‚Nun hast du alles noch tausendmal schlimmer gemacht. Was ist gewonnen mit diesem einen Jahr Aufschub? Wenn die Ernte eingebracht ist, wird er wiederkommen. Dann wird er nicht nur mich, sondern uns beide holen.‘ ‚Ach was, Mann‘, lachte die Sonnenfrau da. ‚Ist erstmal ein Aufschub erreicht, läßt sich der Rest auch gewinnen. Ein Jahr, das ist lange hin. ‘“

Wo mochte nur Ask bleiben? Was, wenn die Felsendämonen doch mehr waren als grausige Steingesichter in der schwarzen Wand? Und was, wenn der Waldalte kam? Rowan lauschte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, die Schritte des älteren Bruders konnte er nicht hören. Nur die Geräusche des Waldes. Des Waldes, der dem Waldalten gehörte.

„Und er hat ihn doch ausgetrickst, den Bösen, hörst du, Sagitta?“ flüsterte Rowan. „Als er am nächsten Tag rastlos durch sein Land streifte, da traf er einen Bauern, der gerade sein Feld bestellte. Aber der tat das nicht, wie man normalerweise auf seinem Acker sät. Nein, er drückte Eicheln in die Furchen. Eine neben der anderen, das ganze Feld entlang. ‚Was tust du da?‘ fragte der Bergfürst verwundert, denn er hatte so etwas noch nie gesehen. ‚Ich arbeite für die Zukunft‘, sagte der Landmann. ‚Oh, nicht für meine eigene und auch noch nicht für meine Kinder und Enkel. Aber meine Urenkel werden einst einen stattlichen Wald besitzen und eine reiche Ernte haben. Sie werden mich segnen, wenn erst meine Eichen in die Höhe gewachsen sind. Genauso, wie ich es meinem Urgroßvater zu danken habe, daß ich jenes reiche Waldstück dort hinten besitze.‘ ‚Segnen, das will ich dich auch, guter Mann‘, freute sich der Bergfürst. Und er überschüttete den verdutzten Bauern mit Gold und Silber. Und dann, dann begann er, das ganze Land längs der Berge umzupflügen. Und überall, wo nur eine Handbreit Erde sich fand, da senkte er eine Eichel in den Boden. Hörst du, Sagitta, er hat ihn ausgetrickst, den Bösen. Denn als der ein Jahr darauf kam und die beiden holen wollte, da hatten die jungen Eichenbäume nur gerade erst den Kopf aus der Erde gestreckt. ‚Eine Saat und eine Ernte war ausgemacht‘, lächelte der Bergfürst dem Bösen entgegen. ‚Und die Zeit der Ernte ist noch lange nicht heran.‘ Da schrie der Böse auf vor Zorn und riß die Felswände auseinander. So laut war der Wutschrei, daß die Berge noch lange nachzitterten. ‚Und holen werde ich dich doch‘, schrie er. ‚Und gehn auch Jahre drüber hin, zittern sollst du vor dem Tag, an dem der letzte Baum fällt.‘

Aber Vertrag ist Vertrag, und er hat den Alten nicht angetastet bis heute. Jahre kamen und gingen. Und höher und immer höher wölbte sich das Blätterdach des Bergwalds. Längst sind die Kinder und Enkel des Bergalten dahingesunken. Menschengeschlechter kamen und gingen. Nur der Alte streift noch immer als ruheloser Geist durch den Wald, den er gesät hat. In hellen Mondnächten, heißt es, hat man ihn rufen hören. Und wer immer seinen Wald antastet, den wird er strafen. Denn noch immer wartet der Böse im schwarzen Felsen darauf, daß der letzte Baum des Bergwaldes fällt. Dann wird er kommen und holt den Waldalten in sein Reich unter den Felsen.“

Sagitta gab leise Schnarchlaute von sich. Eng an den Stamm des Eichenbaums geschmiegt, war das Mädchen eingeschlafen. Mißmutig starrte Rowan ins Dunkel. War das eine Art, ihn ganz allein zu lassen. Er tastete nach seinem Kaninchenbogen.

Plötzlich stob das Laub auseinander. Wie eine Rotte flüchtender Wildschweine brach Ask durch das Unterholz und stürmte auf die Geschwister zu.

„Weg hier!“ schrie er. „Rowan! Sagitta! Schnell weg!“

Müde taumelte Sagitta in die Höhe. Schon hatten Ask und Rowan sie bei den Händen gefaßt und stürzten mit der Schwester in der Mitte davon.

„Die Berge!“ keuchte Ask. „Die Dämonen erwachen!“

In wilder Flucht jagten die drei Kinder durch das Laub und wagten es erst nach mehreren Meilen zu verschnaufen.






© Petra Hartmann