Im Bann der Eisdämonen

„Es ist schon lange Zeit vergangen seit jenen Tagen. Es war vor den Tagen meines Urgroßvaters und seines Urgroßvaters, und selbst dessen Urgroßvater hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt. So alt waren jene Tage, daß man die Zeit dahin nicht in Menschengeschlechtern angeben kann. Wir tun besser daran, die Jahre in Sonnengeschlechtern zu messen. So höre denn, daß die Urgroßmutter der Sonnenmutter in jenen Tagen noch ein spielendes Sternenkind war und die flache Nordebene, die sich heute bis zum Horizont erstreckt, ein Bergmassiv so hoch wie der Himmel. Und dieses Bergland war nur ein kleiner Teil der rabenaugenschwarzen Mitternachtsberge, die sich von Süden nach Norden erstreckten und die Welt in zwei Teile teilten.

So groß waren die Felsen, daß sie sich weit ins Reich des ewigen Frostes hineinschoben, weit in die Eisigen Einöden hinein, wo die Welt weiß ist vom ewigen Eis und wo Sturmdämonen ihre Frostkristalle durch die Luft peitschen und alles Leben erstarren lassen.

Das Eis war eine mächtige, wilde Gewalt in jener Zeit, eine furchtbare Kraft der Zerstörung wohnte ihm inne. Ob wilde Blizzards die tödlichen Schneemassen wie alles verschlingende Meereswellen über das Land jagten, ob stille, die Augen blendende Gletscher sich übers Land schoben und in ihrer lautlosen Unaufhaltbarkeit alles zermalmten, was sich ihnen in den Weg stellte, es gab keine Macht, die diesem Eis begegnen konnte.

Und das Eis wuchs. An manchen Tagen mochte es nur ein Schritt weit sein. Doch an manchen war es auch so weit wie ein Pfeilschuß. Mit jedem Tag drang es weiter nach Süden vor, und an keinem einzigen gab es auch nur einen Fußbreit des Bodens wieder zurück, den es sich genommen hatte. Kalt war es in diesen Tagen. Nimm den kältesten Wintertag, an den du dich erinnerst, und stell ihn dir zehnmal so eisig vor, dann weißt du ungefähr, wie in jener Zeit der heißeste Sommertag war, und die Menschen freuten sich schon über solch einen warmen Tag, auch wenn es nur ein einzelner war. Doch mit jedem Tag fegte neuer, tödlicher Eisatem vom Norden heran, und selbst die Sonne, ein blaugefrorenes, nur manchmal rötlich am Horizont aufschimmerndes Trostgesicht, hatte keine Macht mehr über das Eis.

Dann kam der Tag, an dem der Gletscher den ersten Berg erreichte. Der Berg hatte doch immer standgehalten, der Berg würde doch dem Gletscher trotzen können, hofften die Menschen. Doch das Eis drückte in schweigender Unerbittlichkeit gegen seine Hänge, und der Berg erstöhnte. Drei Tage und drei Nächte hörte man das Ächzen und Jammern des Nordbergs, am vierten barst mit einem durch alle Welt gellenden Todesschrei seine Flanke, es war wie der Todesschrei eines sterbenden Gottes. Am Morgen des fünften Tages war nur noch ein leises Weinen im Wind zu hören. Und im Norden breitete sich die Eisfläche aus und war noch ein Bergesleben weiter nach Süden vorgedrungen. Unbarmherzig schob der Eispanzer Fels und Geröll vor sich her, unaufhaltbar schob er sich weiter heran, und der Nordberg war verschwunden, zersprengt, niedergewalzt und unter Eis für immer begraben.

Angst hielt von diesem Tage an das Bergvolk in eisernem Griff. Der Berg hatte nicht standgehalten, das Undenkbare war geschehen. Und noch immer türmten sich im Norden Eismassen drohend übereinander, Gletscher schoben sich bis in den Himmel hinein, und es schien, als habe der Nordberg dem weißen Tod nur Appetit gemacht, und er wollte nun auch noch den Rest des Gebirges verschlingen.

In diesen Tagen stand ein großer Häuptling auf. Sein Ruf erscholl über alle Berge und Täler der Haran-Dem, er rief alle Bergvölker zum Kampf gegen die weiße Wand. Die Jäger der Klippen kamen zu ihm, das Volk des Abgrunds scharte sich um ihn, selbst die harten Leute von den grauen Felsen folgten dem Ruf. Er rief zum Krieg, zum Krieg gegen einen schier unbezwingbaren Gegner, und doch folgten alle Haran-Dem ihm willig und mit dem Mut der Verzweiflung.

Wie ein einziger Mann stand das Volk der Haran-Dem auf. Speere und Spieße flogen. Elchschaufeln und Hacken rückten gegen das Eis vor. Selbst Kinder und Greise schlugen mit spitzen Steinen auf die Eiswand ein und bemühten sich, eine Bresche zu schlagen und Splitter, Scherben und Kristalle aus der glänzenden Front herauszubrechen.

Dennoch: Für jeden Splitter, den sie herausschlugen, für jede Schaufel, die sie hinter sich warfen, für jeden Hackenschlag und jeden Fingerbreit gebrochenen Eises schien die doppelte Menge nachzuwachsen. Je verbissener sie kämpften, je verzweifelter sie auf die Wand einschlugen, desto schneller schob sie sich voran, und nun erreichte die tödliche weiße Front den breiten, mächtigen Hauptberg, dessen Gipfel so hoch war, daß ihn fast immer Wolken umlagerten. Das Eis wuchs höher als der Coppahar, es stieg auf bis zu den Sternen, die Gletscher streckten ihre weißen Fänge nach ihm aus. Hatte der Nordberg geächzt und geschrien wie ein sterbender Gott, so ging nun ein Riß durch die ganze Welt, und wie eine sterbende Welt schrie der Hauptberg, der Coppahar, in dieser Nacht, als die Eismassen ihn eindrückten und zermalmten. Am Morgen herrschte eisige Stille. Und nur das Klirren des ewigen Frostes erstreckte sich vor den Haran-Dem in die Ewigkeit, und das unendliche Eisfeld blinkte gierig und weiß, als wollte es die ganze Welt verschlingen.

Und wieder erhob sich der Gletscher, um nun auch noch den Südberg zu fressen. Das Eis bäumte sich auf, und Eisplatten schoben sich übereinander und ragten bis weit in den Himmel hinauf.

Da rief ein kluger Mann: ‚Feuer! Legt Feuer an den Nordhang und brennt die Wälder ab!‘

Das schien dem Bergvolk eine gute Idee. Jeder riß einen Brand aus dem Lagerfeuer und trug die Fackel zur Eisfront. Da legten sie die Flamme an die Nordwälder des Südbergs. Bald stieg dunkler Rauch vom Fuß der Berge auf. Die harzreichen Nadelhölzer brannten wie Zunder, Tannen und Fichten, Lärchen und Kiefern flammten auf und standen wie flackernde Feuerzeichen vor dem schwarzen Himmel. Das Feuer fraß sich hangauf und hangab, verbrannte alles um sich her, den nadelbedeckten Boden, die Flechten und Moose, die saure Erde, den weichen Grasboden, auch das Getier, das noch nicht von der Kälte gestorben war und nun zwischen Feuer und Eis zerrieben ward. Das Feuer fraß sich herum um den Berg, es leckte um seine West- und Ostflanke, es züngelte um seine Südseite, es schlang die hellen Laubwälder in sich hinein, verbrannte die Weiden und Birken, auch die starken Eichen und Buchen standen in Flammen. Rot glühte der rauchschwarze Himmel, selbst die Sterne schienen Feuer gefangen zu haben. Vor Schmerz brüllte der alte Mond auf, die Felsen ächzten, mehr als ein Felsblock zersprang vor Hitze, da schossen die scharfen Steinsplitter durch die Luft, und wehe jedem, der zu nahe stand: Er wurde grausam durchbohrt von den fliegenden Todesspitzen.

Das Eis wurde schwarz, die Front schmolz dahin, schwarze Ströme rannen von der Todeswand.

Doch es währte nur kurze Zeit. Dann war der Wald verzehrt. Nur schwarze Asche noch deckte die Hänge. Und das schwarzgefärbte Eiswasser, das südwärts geflutet war, das in alle Höhlen und Spalten des Südbergs gedrungen war, es kühlte ab. Dann gerann es. Dichter und fester wurde das Eiswasser, es erstarrte. Der Berg ächzte. Er schrie. Dann sprengte ihn das Eis von innen her. Er flog auseinander, zerplatzte wie Kohle im Lagerfeuer, nur lauter, unendlich viel lauter. Felsbrocken flogen durch die Luft, sie schossen von der Kraft der Explosion meilenweit ins Land. Das Gebirge – es war nicht mehr. Und bald deckte der Schnee auch die letzten schwarzen Spuren von Asche und Eiswasser zu, die der letzte Kampf hinterlassen hatte.

In den Lagern der Haran-Dem erhob sich ein Klagen und Jammern. Nun war alle Hoffnung verloren. Niemand war mehr da, der dem Eis Einhalt gebieten konnte. Die letzte Barriere war gefallen, das letzte Gebirge war unter den Gletschern begraben und für alle Ewigkeit verloren.

‚Seht, Brüder!‘ rief da der Älteste der Schamanen aus. Mit der ausgestreckten Hand wies er nach Süden.

Tatsächlich – dort lag plötzlich ein Berg, den noch niemand zuvor gesehen hatte. Klein war er, nicht zu vergleichen mit der himmelan ragenden Wolkenhöhe des Coppahar, des Nordbergs oder des Südbergs. Aber es lag dort ein Berg, der vorher nicht dagewesen war.

Als sie nähertraten, fanden sie die schwarze, harte Abbruchkante, die glatt und kalt wie die Eiswand aufragte. Schwarzer Stein erhob sich senkrecht vor ihnen in die Höhe. Da erkannten sie, daß es die Spitze des Südbergs war, die Feuer und Eis abgesprengt und in den Himmel geschleudert hatten. Der letzte Berg lag in der Ebene und bot seine glatt aufragende schwarze Flanke der Eiswand zum Angriff dar.

‚Das ist ein Zeichen der Götter!‘ rief der Älteste der Bergschamanen aus, und alle Heiligen Männer der Haran-Dem schrien zu den Himmelsbewohnern um Hilfe und Gnade. ‚Einzig die Götter können ihr Volk noch vor der Eiswand retten, einzig die Götter bewahren die Welt vor der ewigen Nacht des weißen Todes!‘ rief der Älteste. ‚Lasset uns diese Wand den Göttern weihen. Auf – alles Volk, das Finger und Hände hat, alles was Münder und Füße hat, auf! Dies sei die Wand der Götter, und ihre Bilder allein können uns bewahren! Laßt uns die Gesichter unserer Retter eingraben in die schwarze Wand. Eine schwarze Götterwand sei unser Schutz gegen die weiße Wand der wilden Eisdämonen.‘

Das Volk jubelte. ‚Du sagst es, Heiliger Mann! Den Göttern sei diese Felswand geweiht. Unser Schweiß und Blut soll den Bund besiegeln, den wir mit ihnen schließen. Auf, ihr Haran-Dem! Die Wand und unser aller Leben, es sei den Göttern geweiht!‘

So geschah es. Mit Stein und Holz, mit Eisen und Knochen, manche auch mit bloßen Fingernägeln, so gruben sie die Bilder ihrer Götter in den harten Fels. Blut spritzte aus ihren Fingern, so hart arbeiteten sie. Oft rieben sie zehn Hirschgeweihe zuschanden, um ein einziges Auge zu formen. Oft sprangen Steinklingen von den Felsen, wenn sie den Meißel ansetzten, und schlugen ihnen tiefe Wunden. Doch ein Götterantlitz nach dem anderen trat aus der Wand hervor, die drei Namenlosen, der Grausame, der Winterfürst, das Antlitz des erhabenen Montan, hundert Götterbilder gruben sie tief ein in die Wand, tausend schwarze Dämonenfratzen, die Wache hielten, das Gesicht nordwärts gerichtet, die Augen drohend dem Feind entgegen, mit böse verzerrten Zügen, so sahen sie dem weißen Tod entgegen. Schaurig waren die Blicke, die die Götter nordwärts warfen. Mit wilden Grimassen drohten sie der Eiswand, den Mund weit aufgerissen, wie um die bösen Geister des ewigen Eises zu verschlingen.

Lockend und leise erhob sich der Gesang der Schamanen. Wehmütig bittend flogen die Lieder hinauf in den Himmel, dann laut und heulend wie verzweifeltes Klagen und die Schmerzensschreie der verlorenen Berge. Sie sangen um das Schicksal ihrer Welt in dieser Nacht. Sie sangen zu ihren Göttern. Gelobten, ihnen ihr Leben zu weihen. Gelobten Opfer und lebenslange Verehrung, so lange noch ein Haran-Dem Atem hatte zum Gebet am Fuße des Berges.

Und es geschah! Sie kamen gezogen, in endlosen Reihen, einer nach dem anderen schreitend. Gemessen feierlich war ihr Tritt und voller Würde. Schwer erdröhnte die Luft unter ihren Füßen, es bebte der Felsen, die Ebene zitterte. Und doch war ihr Schritt sanft und leicht zugleich wie das Säuseln des Frühlingswindes, kein Hälmchen krümmte sich unter ihnen, als sie dahergeschritten kamen.

Den Männern aber standen vor Entsetzen die Haare zu Berge. Vor Furcht zitterten ihre Leiber wie Espenlaub, als sie die Erbarmungslosen sahen, die auf dem Lied des Medizinmanns zu ihnen herabstiegen. Gewaltige Götter fuhren vom Himmel hernieder, jeder von ihnen größer als die höchste Eiche und wilder als der grausamste Berglöwe, jeder schwarz und glänzend wie die schwarze Dämonenwand, und ihre Augen glühten wie Kohlenfeuer in der Nacht.

Einer nach dem anderen traten die Götter und Dämonen in die schwarze Wand ein. Keiner sprach ein Wort. Doch die Menschen faßte das nackte Grausen, als sie gewahr wurden, was sie da vom Himmel herabbeschworen hatten. Als die Morgensonne sich blutrot über den Horizont erhob, waren hundert Götter und tausend schwarze Dämonen in die Wand eingezogen, und in den schaurig schwarzen steinernen Götterfratzen glühten die Augen und drohten. Dies war der Bund, den das Volk der Haran-Dem mit den Unsterblichen schloß.

Den ältesten Schamanen aber fand man am Morgen tot zu Füßen der Götter. Seine Seele war davongeflogen und hatte den steinernen Pakt besiegelt, und nur sein Schüler war in jenem Moment bei ihm gewesen, ihm hatte er Stab, Kette und das Amt weitergegeben.

An jenem Morgen war es, daß die Eisfront sich erneut erhob und ihre Gletscher als Kundschafter voraussandte. Da starrten die Götter die eisigen Boten so wütend und furchterregend an, daß sie sich entsetzten in der Tiefe ihrer Seele. Ein Angstgeheul erhob sich in der lautlosen, eisigen Ewigkeit. Der Gletscher bäumte sich auf. Er stürzte zurück und floh. Die Eisdämonen erzitterten und fürchteten sich. Langsam, zögernd wie ein Wisent, das im Kampf von Pfeilen verwundet wurde, zog sich das Eis zurück, einen Fuß hinter den anderen zurücksetzend, mit dem gesenkten Hornschädel noch immer wütende Hiebe austeilend. Doch der Bann war gebrochen, der unaufhaltsam fortstürmende Angriff der Eisfront war gestoppt. Jahre und Jahrhunderte später sah man im Norden, in der vom Eis hügellos flach geschliffenen Ebene wieder Gras und Blumen sprießen, das Wasser der Gletscher sprang voran als sprudelnder Bach, der bald zum mächtigen Strom Trifta wurde.

So, mein Sohn, war es, als unsere Vorfahren die Eiswand stoppten. Und so war es, als unser Gebirge entstand. Es mag heutigen Menschen groß und gewaltig vorkommen, gewiß. Und doch ist es nicht mehr als die abgesprengte Spitze des Südbergs, der letzte Fels des verlorenen Gebirges. Vergiß es nie, mein Sohn, und bewahre meine Worte. Du bist zum Hüter dieser Wand bestimmt, und dein Amt wird es künftig sein, sie zu verehren. Sei mutig und tapfer, mein Sohn Roc. Und denke stets daran, die Belange der Götter zu bewahren. Denn der Wille der Götter steht noch über dem der Menschen, und ihr Wohl sollst du höher achten als dein Leben und das Leben aller Haran-Dem. Diese Wand ist der Vertrag über das Leben einer ganzen Welt. Vergiß es nie. Willst du mir das versprechen, Roc?“

„Ja, Heiliger Mann“, flüsterte Roc. Die Worte erreichten kaum seine Lippen, sein Kehlkopf war zu rau, zu verkrampft zum Sprechen. Er räusperte sich, um sein Versprechen zu wiederholen. Doch dann sah er, daß dies nicht mehr nötig war. Der alte Schamane war tot.






© Petra Hartmann